Reisebericht ins Pine Ridge Reservat
September 2016
Bericht: Alexandra W.
Einen Reisebericht über eine Woche bei den Lakota? Das wird womöglich ein ganzer Roman. Besser, ich widme mich nur meinem Lieblingstag.
Der Donnerstag bei Wendells Familie auf Wendells Land. Das war mein Tag …
Beginnen möchte ich mit meiner eigenen Geschichte. Das scheint vielleicht unpassend, doch es bestimmt meine Sicht der Dinge und macht mich unter anderem zu dem Menschen, der ich bin und der diese Geschichte erzählt.
1983 schrieb ich im Alter von 14 Jahren einen Brief (Internet lag in ferner Zukunft) an die Black Hills Alliance in South Dakota mit der Bitte um authentische Informationen zur Lage der Lakota. Daraufhin erhielt ich ein Paket nebst Antwortschreiben einer Lakota Frau. Sie schickte mir außerdem die Adresse ihres Cousins. Der Beginn einer wunderbaren, etwas heiklen Freundschaft. Mein neuer Brieffreund war nämlich AIM Aktivist, 28 Jahre alt und saß gerade eine längere Haftstrafe ab. Doch die Freundschaft hielt und 1987 machte ich mich auf in unbekanntes Land und erfüllte mir meinen Traum: Mit Gabriel White Bull, seiner Frau und den beiden Töchtern erlebte ich einen Sommer lang den Alltag einer indianischen Familie zwischen Reservat und Stadt, Powwow und Armut, Aufbruch und Hoffnung.
Heute lebe und arbeite ich als Schriftstellerin und Malerin in Mittelfranken (und gehöre damit laut aktueller Studie zu den zweitglücklichsten Menschen Deutschlands!). Meine Reisen führen mich oft nach Schottland und Kanada, wo ich kurze Zeit auf Saltspring Island in British Columbia gelebt habe.
Zuhause aber bin ich hier in Markt Berolzheim, wo ich mit einem Fuß im Naturpark Altmühltal stehe und mit dem anderen im Fränkischen Seenland. Bei uns ist die Landschaft herrlich lieblich und die Leute lieblich herb. Gute Mischung. Trockener Humor und Understatement werden großgeschrieben. Das passt zu den schlitzohrigen Lakota. Anyway, die Lakota haben mich gelehrt, dass man Wurzeln braucht, um zu wachsen. Meine Wurzeln sind hier und geben mir den Raum zum Atmen und Entfalten.
Okay, also dieser Donnerstag auf Wendells Land … war toll – in jeder Hinsicht. Nicht, dass die anderen Tage nicht auch toll waren, aber am Donnerstag gab es vor allem eines: Zeit. Und die brauche ich, um mit einem Ort warm zu werden. Ich muss einen Ort mit allen Sinnen wahrnehmen können, um ihn kennenzulernen. Seinen Geruch, die Farben, wie er schmeckt, sich anfühlt und wie es wäre hier zu sein, die ganze Zeit.
Der Plan war, dass die Männer das Fleisch ranschaffen (kleiner Jagdausflug zum Metzger nach Nebraska), während die Frauen das Essen richten und was sonst noch so anfällt. An dieser Stelle muss ich gestehen, dass Küche und Haushalt noch nie mein Ding waren. Ich musste schon immer raus und schauen, was die Welt so treibt. Könnte damit zusammenhängen, dass ich nur mit Jungs aufgewachsen bin – die machten sich auch nix aus Küche und Kochen. Dafür konnten wir Unmengen an Essen verputzen. Naja, inzwischen ist einer der Jungs Koch. Seine Familie wohnt neben meiner und ich gehe ziemlich oft zum Essen.
Egal, Wendells Haus war voller Leute und ich musste raus. Das geht gut auf Wendells Land. Viel Platz in alle Richtungen. Anfangs streunte ich gemeinsam mit Christina über die Hügel. Bisschen aufpassen sollte man wegen der Klapperschlangen. Aber sonst: neugierige Pferde, nette Hunde, ein Haufen alter Autos, leuchtend gelbe Pappeln und ein riesiger Himmel über all der Weite. Raum für Ruhe und Gedanken. Das brauchte ich. Ein Ort zum Sammeln, damit das bisherige Erlebte einen Platz in meinem Kopf finden konnte.
Pferde hinter Wendells Haus
Hunde unter Wendells Auto
Wir hatten andere Orte besucht: Red Cloud School, Red Clouds Grab, Pine Ridge, KILI Radio, Fort Robinson, White Clay. Das Besondere jedoch waren wie üblich die Menschen und ihr Zuhause.
Ich war nicht zum ersten Mal in einem Reservat oder in den Häusern von Lakota …
Woran sich nichts geändert hat seit damals ist dieser unglaubliche Kontrast zwischen den Dingen. Eine atemberaubende Landschaft und das Wissen um Uranverseuchung. Lachende Schüler in der Red Cloud School und Betrunkene in White Clay. Starke Menschen und totale Hoffnungslosigkeit. Zeitloser Raum und begrenzte Lebenserwartung. Die Liste ist lang und nur ein Teil meiner Gedanken, die mir auf dem Hügel hinter Wendells Haus durch den Kopf gingen.
‚Normale Touristen‘ haben wohl kaum die Möglichkeit hier zu sitzen und darauf zu warten, dass das Fleisch endlich eintrudelt und die Tiyospaye, die Großfamilie, zum Essen aufkreuzt. Das ist das Besondere dieser Reise. Der persönliche Kontakt. Man lernt nicht nur die Projekte vor Ort kennen, sondern die Menschen hinter den Projekten. Bilder werden lebendig und bekommen ein Gesicht.
Nachdem ich mich an den Weiten der Prärie, deren Wellentäler sich mit buntem Laub geschmückt bis zu allen Horizonten dehnen, sattgesehen habe, gefühlte tausend Fotos gemacht habe, die Pferde mit dem Trailerhaus und all den Autowracks zu einem Bild zusammengefügt habe, stehe ich auf und trabe den Hügel wieder runter. Leute kommen und gehen. Wendells Kinder, Enkel, Neffen, Nichten tauchen auf, sagen Hallo, bringen was und fahren wieder weg. Misty, seine Tochter, zeigt uns ihre Handarbeiten und Zeichnungen ihres Mannes. Ihr neues Baby ist überall dabei. Peji, Wendells Sohn, sammelt seine Truppen, um das Armeezelt für heute Abend aufzustellen. Wir passen sowieso nicht alle in die Küche, also machen sich die German Ladies auf in die idyllisch gelegene Talsenke, um den Anweisungen ihres Native Guide zu folgen und das riesige Armeezelt auf die Wiese zu stellen. Hammer, hey! Im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdem Planen ausgebreitet, Seile geordnet, Pferdemist entfernt und Werkzeuge verteilt sind, hallen erste Hammerschläge durch das Tal. Schweißgebadet, staubbedeckt und unheimlich stolz mustern wir irgendwann das Ergebnis unserer heroischen Anstrengungen und begießen das Ganze mit etlichen Flaschen Wasser. Egal, was kommt, unser Zelt wird standhalten!
Dann kommt die Sonne raus und verwandelt die Schrottautos in pittoreske Kunstwerke. Ich bin entzückt! Porträts alter Autos in
grandioser Landschaft waren schon immer meine Leidenschaft. Was für ein genialer Tag!
Mein Auto und Ich
Lucy und ich
Wollten wir nicht auch reiten?
Hm, die Pferdchen müssen aber erst gefangen und zuallererst gefunden werden. Ein Spähtrupp macht sich auf den Weg und kehrt mit Stute Lucy im Schlepptau zurück. Lucy ist so lieb, dass es fast schon unheimlich ist. Aber schön! Dank einiger Reitstunden zuhause werde ich nicht zur totalen Witzfigur, schwinge mich behände (Wieher!) in den Sattel und sehe die Welt vom Pferderücken aus. Dank an dieser Stelle an Angelika und Birgit!
Die Kids sind überall dabei und haben ihren Spaß. Peji schleppt mit Unterstützung aus Germany den Grill runter zum Zelt und dann warten wir auf die Rückkehr von Chris und Wendell. Aus der Küche wandern Köstlichkeiten wie Kartoffelsalat, Suppe und Frybread zum Picknickplatz. Die ersten Gäste sind auch schon da und irgendwann ist es ganz plötzlich dunkel geworden. Das Fleisch brutzelt auf dem Grill, ein Lagerfeuer brennt und alle Aktivität konzentriert sich im und um unser Prachtstück von Zelt. Wer möchte, bekommt einen Schnellkurs in der Verarbeitung von Stachelschweinborsten von zwei tollen Frauen, die auch ihre Handarbeiten zum Kauf anbieten. Die Sachen sind tatsächlich die Schönsten, die ich auf der ganzen Reise sehe. Leider erweise ich mich als komplett unfähig in Sachen Quillwork. Da stelle ich mich lieber anderen Herausforderungen! Doch der Transport von vollen Kaffeekannen aus Emaille mit Hilfe einer Kugelschreibertaschenlampe über Stock und Stein durch die Dunkelheit vom Haus zum Zelt kann das persönliche Weltbild ganz schön zum Wanken bringen!
Dann ist das Fleisch gar und die Leute füllen sich die Teller. Wendell hält eine kleine Rede mit Gebet und Andrea schaut echt glücklich aus. Inzwischen erkennen auch wir bekannte Gesichter in der Menge, begrüßen Cornells Frau und erfahren, dass er selbst im Krankenhaus ist. Alle wollen einen Blick auf Mistys Baby werfen und die alten Leute sitzen gemütlich auf ihren Liegestühlen. Geduldige Hunde schnurren um die Beine und lächeln glücklich, wenn was für sie abfällt. Und wir sind mittendrin! Dieses Mittendrin hat mir gefallen und deswegen war der Donnerstag mein Lieblingstag.
Mein Fazit nach einer Woche ‚Land & Leute‘ bei den Lakota?
Was die Projekte anbelangt, bin ich nach wie vor der Meinung, dass es am meisten bringt, Leute direkt vor Ort zu unterstützen. Wann immer möglich mit Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn andererseits der Präriewinter vor der Tür steht und man einen Blick auf die Häuser allgemein und die herrschenden Wohnverhältnisse im Besonderen werfen konnte, dann weiß man, dass jeder Dollar zählt. Prinzipien sind eine schöne Sache, so lange man im Warmen sitzt vor gefüllten Tellern. Das Pferd ist ein wichtiger Teil der Lakota-Kultur (egal seit wann). Kinder und Pferde zusammen zu bringen und sie damit ein Stück ihrer Kultur näher zu bringen, ist eine gute Sache. Wir sollten auch auf die Wurzeln unserer Kultur achten, damit wir nicht bei anderen danach suchen müssen.
Ich bin jedenfalls glücklich die Reise gemacht zu haben, den Kontakt wieder geknüpft zu haben. Und darum an dieser Stelle ein dickes DANKE an Andrea und Chris, die uns eine tolle Woche ermöglicht haben!